Grosshorn, Chlin Hüreli, Averstal, Skitour WS, Sonntag, 3. April 2016, Leiter: Markus Good
Hoch hinauf
„Die Sonne schmolz den Schnee auf unseren Skiern, die wir trugen, und trocknete das Holz. Es war Frühling im Tal, aber die Sonne war sehr heiss… Wir waren in der Silvretta einen Monat lang Ski gelaufen, und es war angenehm, unten im Tal zu sein. In der Silvretta war das Skilaufen gut gewesen, aber es war eben Frühlingsskilaufen; der Schnee war nur frühmorgens und dann wieder abends gut. Die übrige Zeit wurde er von der Sonne verdorben. Wir hatten beide die Sonne satt. Man konnte sich vor der Sonne nicht retten. Nur die Felsen und die Hütte, die neben einem Gletscher im Schutz eines Felsens errichtet waren, gaben Schatten, und im Schatten gefror einem der Schweiss im Unterzeug. Ausserhalb der Hütte konnte man nur mit einer dunklen Brille sitzen. Es war angenehm, schwarz zu brennen, aber die Sonne war sehr ermüdend gewesen. Man konnte sich nicht in ihr ausruhen. Ich war froh, wieder unten und aus dem Schnee heraus zu sein. Für die Silvretta war es zu spät im Jahr. Ich hatte das Skilaufen ein bisschen über.“
Ernest Hemingway, „Gebirgsidyll“, 1925, in „Männer ohne Frauen“, Rororo
Von Andeer nach Juf hinauf sind es 28 Kilometer. Die Averser Talschaft selber misst 23 Kilometer.
Das Hochtal wird erst hinten sanfter. Nachdem man vom Hinterrheintal abgezweigt ist, bildet der Averser Rhein zuerst eine Schlucht. Tunnelbauten waren erforderlich, um eine effiziente, sichere Talzufahrt zu gewährleisten. Man durchfährt mehrere Naturtunnels.
Bei Campsut leitet eine Brücke die Strasse von der Südwest- zur nordöstlichen, sonnigeren Talseite. Erst ab Cresta – sechs Kilometer vor Juf – führt die Strasse ruhig auf der Sonnenseite von Weiler zu Weiler bis nach Juf hinauf.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich unsere Vorfahren, allen natürlichen
Gegebenheiten trotzend, Lebensräume erschlossen. Gleich beeindruckend ist es zum
Beispiel im Safiental, ebenfalls dreissig Kilometer lang, das ähnlich wie das Averser Hochtal unten schroff ist und erst nach langen Kilometern in einen bewohnbaren Talboden mündet. In beiden Fällen waren „unsere Vorfahren“ Walser. Sie erschlossen die
Talschaften der Geschichte nach auch nicht von unten, sondern von südlichen Tälern über die Berge hinweg. (Hätten sie von unten in die Täler hineingeguckt statt von den Übergängen hinab, hätten sie’s vielleicht nicht getan.)
9309 Hektaren misst die Grossgemeinde Avers, bestehend aus den Fraktionen Campsut, Cröt, Cresta, Pürt oder Pürd, Am Bach, Juppa, Podestatsch Hus und Juf. Campsut liegt mit 1668 Metern über Meer schon auf Kronberghöhe, Juf auf 2126, wie man weiss.
In Cresta befinden sich das Gemeindehaus und die Schule – erste bis sechste Klasse, Mehrklassenunterricht. Die vierte bis sechste Klasse besuchten 2013 fünf Schülerinnen und Schüler. Die Gemeinde zählte am 1. Januar 2016 171 Einwohnerinnen und Einwohner – 13 weniger als noch Ende 2005. Transportdienste verrichtet die Postautolinie 90.552 Andeer–Juf, acht Werktagskurse.
Ab Cresta präsentiert sich das Tal zwar mit mehr Weite, dafür baumfrei. Man überlegt sich, wovon die Menschen der Talschaft früher lebten. Der Veganismus wurde bestimmt nicht hier erfunden. Lässt sich etwas Hafer anbauen? Werden in den kurzen Sommern ein paar Erdbeeren reif? Gibt es Heidelbeeren – ohne Waldboden? Kann man wenigstens ein paar Kartoffeln ernten? Der Rest ist Viehwirtschaft. Und Handel. Doch womit? Käse? Den gibt es woanders auch. Holzerzeugnisse?
Das Tal bietet Übergänge nach Maloja, Bivio und ins Bergell. Mit der Strasse, lese ich auf Wikipedia unter Avers, wurde das Tal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschlossen – und die Bevölkerung davon erlöst, ihre Einkäufe jeweils über den Madrisberg in Chiavenna und Savogno zu besorgen, den Handelsorten der Averser.
Wohlverstanden, mit 2649 Metern liegt der Madrisberg „nur“ 523 Meter höher als Juf, von diesem Übergang bis nach Chiavenna auf 333 Meter über Meer geht es dafür 2316 brutale Meter hinunter. Man stelle sich vor, wie jeweils die Wintervorräte angelegt werden mussten, bevor das Tal für fünf Monate eingeschneit und der Übergang zu war. Oder wie sich die Bevölkerung medizinisch versorgte.
Wir fuhren um 5 Uhr in Uzwil, zehn Minuten danach von Flawil ab. Bei Chur tagte es. Die Unterhaltungen im Auto waren angeregt.
Das Tal schlief und lag noch im Schatten, als wir es erreichten. In Ausserferrera ging ein Bauer im blauen Hemd dem Strassenrand entlang. Nicht mal eine Handvoll Fahrzeuge fuhren talwärts, aber ebenso viele mit deutschen und Zürcher wie Bündner Kennzeichen.
Bei uns blühen seit einigen Tagen die Forsythienbüsche. In Avers liegt noch Schnee. Ist der erst mal weg, wird für ein paar Wochen noch alles braun sein. Dabei waren dieses Jahr die Schneefälle sehr gering.
Wir parken auf dem gekiesten Abschnitt neben dem Restaurant Pürterhof. Es haben maximal fünf Autos quer zur Strasse nebeneinander Platz. Dahinter beginnt gleich die Böschung. Es geht fast 1400 Meter jäh zum Piz Platta hinauf. Das Auto stösst mit der
Nase an den Schnee. Das Parkfeld dient wohl auch als Postautohaltebucht. Die Tafel mit Fahrplan (und Robidog) befindet sich gleich nebenan. Vor einem Nachbarhaus steht ein roter „Tesla“ mit einer Bündner Schildern.
Es besteht ein Parkplatz mit Aufschrift „Grosshorn“ zwischen Cresta und Pürt, aber den haben wir übersehen, bemerken ihn erst auf der Rückfahrt.
Das Verzeichnis telsearch.ch gibt für Pürt vierzehn Einträge an. Einer davon gehört der jungen Lehrerin des Tals, eine aus Davos Eingewanderte, die hiergeblieben ist, einen einheimischen Landwirt zum Mann fand und mit ihm eine Familie gründete. Sie sagt im
„Bündner Schulblatt“ vom August 2013: „Das Leben hier ist schon eine grosse Umstellung. Einheimisch wird man da nicht als Auswärtige.“
***
Um 7.45 tragen wir die Skischuhe und schultern Ski und Rucksack. Zuerst müssen wir zum Bach hinunter. Das Weglein an ein paar Ställen vorbei führt über gefrorenen Schnee und gleicht nachmittags selbst einem Bachbett.
Der Averser Rhein schiesst teils noch unter Schneebänken hervor. Weit hinab darf er allerdings nicht wild sein. Unterhalb Cresta wird alles Wasser in den Lago di Lei hinauf und damit auf die andere Bergseite hinüber gepumpt.
Die Frage lautet Harscheisen oder nicht. Im Auto hielten wir das für eher unnötig. Nun müssen wir nicht lang überlegen. Wir spannen sie ein und lassen sie dran bis auf die Pürder Alpa, 2447 Meter.
Erst führt die Spur manchmal noch zwischen Erikasträuchlein durch. Dann liegt nur noch Schnee. Beim Hinaufschreiten wird es bald ruhig. Nur noch das Schleifen von Skis und Harscheisen sind zu hören.
Denn anfangs ist es sehr steil. Weiter zur Alp hinauf wird der Anstieg etwas flacher. Die Sicht ist nicht klar. Der Himmel ist wie schon am Samstag diesig. Das liegt am Föhn. Richtung Berge hinauf schimmern einige Hänge rötlich. Der Föhn trug schon samstags grosse Mengen Saharasand nach Norden. Durch den Südwind ist es auch warm. Wir schwitzen schnell.
Wir erreichen um 10 Uhr 30 das Grosshorn. Das ist eine gute Zeit. Man kann Richtung Hinteres Rheintal, aber nicht ganz bis nach Andeer hinunter blicken, sondern nur bis zum unteren Teil des Averstals. Beim Aufstieg wurde der Blick talaufwärts bis nach Juf freigegeben.
Während des Aufstiegs schützte uns der Hang. Auf 2781 Metern Höhe und an dieser exponierten Lage ist kein Ort für eine Rast. Beim Felleabziehen und ‑aufkleben zieht die Kälte rasch unter die Haut.
Wir fahren ab. „Nicht gerade das Tollste“, heisst es einhellig schon beim ersten
Zwischenhalt nach nur wenigen Drehungen über den verharschten Schnee. Markus fährt weiter voraus. Er sucht die rötlichen Hänge. Tatsächlich, sie geben besseren Halt.
Auf halbem Weg zur Alp hinab, sehen wir im weiten Hang vier weitere Skifahrer in Zweiergruppen aufsteigen. Sie halten inne. Offenbar möchten sie unsere Routenwahl verfolgen. Sonst sind hier die Tourenfahrer viel zahlreicher.
Es ist gerade elf Uhr, als wir wieder in die Senke bei der Alp gelangen. Hier, im
Windschutz, weiterhin ohne direkte Sonne, können wir uns stärken. Aufstieg und Abfahrt waren schon anstrengend gewesen. Nicht unbedingt wegen den tollen
Schneeverhältnissen, wird entschieden, dass wir programmgemäss auch noch das „Chlin Hüreli“ besteigen. Sondern weil wir nun mal hier sind, weil es sich grundsätzlich immer lohnt, Vorhaben umzusetzen – und zur Essensverdauung.
Das „Chlin Hüreli“ – wahrscheinlich „kleines Horn“; es gibt noch weitere Spitzen namens Horn in dem Zug gegen das Bergell hin, so das Tscheischhorn, 3019 Meter – ist so klein nicht. Es misst mit 2798 sogar noch 17 Meter – eine Haushöhe – mehr als das „Grosshorn“.
Zum „Chlin Hüreli“ hinauf sind es wieder zwei‑, dreihundert Meter. Langsam steigend, sind das drei Viertelstunden. Es wird schnell sehr steil. Es ist vorgespurt. Die Spur führt in einem schnörkellosen Zickzack bis zum Gipfel.
Es ist Punkt zwölf, als wir oben sind. Hier prangt ein prächtiges tonnenschweres
Steinmannli, aus Granitplatten geschichtet, das offensichtlich jedem Wetter und den Jahreszeiten standhält. Diesmal ist es windstill. Das Umrüsten fällt leichter, und wir mögen etwas länger rasten.
Nach einer Viertelstunde fahren wir wieder hinab. Die Sonne hat schon ihr Werk getan.
Verrichteten noch vor wenigen Stunden Harscheisen gute Dienste, wird der Schnee nun von Kurve zu Kurve weicher und die Abfahrt mit jedem Zwischenhalt anstrengender. Die Oberschenkel dampfen bald – und zwar bei allen.
Keine halbe Stunde später liegt das Bannwaldstück oberhalb Pürt – ein fast exaktes Rechteck – wieder nah und gross im Tal unter uns. Bei den Gipfeln oben erschien es klein und fern.
In den letzten Steilhängen des engen V, das das Tal ganz zunterst bis zum Brücklein hinab bildet, das über den Averser Rhein führt, muss man den Weg durch den Restschnee suchen. Der hat sich in tiefen Sulz, wenn nicht gar Matsch, verwandelt. Trifft man gerade einen Kuhtritt, sinkt man einen halben Meter ein. Die Ski sind nur noch mühsam aus dem Schnee zu hebeln, der schwer wie Wasser wiegt. Die letzten zwanzig Meter können wir im Schuss zum Brücklein hinunter und darüber hinweg rasen. Bei der Ankunft ist es 13 Uhr.
Es ist typisches Frühlingsskitourenfahren. Wie bei Hemingway, gelangt man nach einer frühmorgens gestarteten Tour mittags ins Dorf zurück, das mittlerweile in der Sonne liegt und wo das Dorfleben seinen sonntäglichen Gang nimmt.
Wir laden alles ein. Mit einer Runde Getränke bezahlen wir im „Pürterhof“ das Parkgeld. Es wird ein schweres Tablett. Wir haben unterwegs nicht zuviel getrunken.
Die Gaststube bietet etwa zwanzig Personen Platz. Sie ist nur vorne hell, denn nach hinten ist das Erdgeschoss schon in den Hang geschlagen. Nach der Theke folgt gleich der Naturkeller. Das Täfer im Eingang ist wurmstichtiges, jahrhundertealtes, unverwüstliches Holz.
Die Pächterin ist Deutsche – Teil der 2,72 Prozent Ausländer im Tal in der Statistik gemäss Wikipedia. „Fünf Jahre Marietta“, steht auf einem Poster an der hinteren Wand im Gasthof.
Wir bleiben nicht sehr lang. Um 14 Uhr fahren wir wieder in die Ostschweiz heim. In Cröt unten steht ein uralter Hornschlitten auf dem Dach – im Februar wird auf der Talstrasse ein Hornschlittenrennen durchgeführt. Im Weiler stehen auf einem Landstück ein paar Kühe,
Rinder und ein schwarzer Muni im Freien um eine Krippe. Unter ihren Hufen, durch ihre Wärme und von ihren Exkrementen ist der Schnee auf dem kleinen Feld geschmolzen – ein dunkelbrauner Fleck im Weiss.
Im Rheintal ist es 26 Grad heiss. Es ist der Föhnwind, der einem auf dem Grosshorn auf 2781 Metern unter die Haut kroch. Im Fürstenland sind es 21 Grad, und es ist wieder diesig. Aber auch ohne Sonne bleibt es an diesem 3. April bis spät in den Abend hinein unvermindert warm.
***
Wir waren keine Kostverächter. Wir haben den Schnee – den wenigen, den wir auf der Alpennordseite in diesem Winter erhielten –, nochmals genossen. Die Tour war schön und streng.
Im Restaurant, noch den ganzen Tag lang und sogar bis in den Montag hinein verspürt man die Zufriedenheit und Entspanntheit, die sich nur einstellt, wenn man eine strenge körperliche Leistung vollbringen kann.
0,102 Kilogramm einen Meter anzuheben, bedarf es eines Joule. 10 mal 0,1 Kilogramm gleich ein Kilogramm mal 90 Kilogramm pro Person mal fünf Personen mal 1100 Höhenmeter durch 1000 gleich 4950 Kilojoule benötigten wir, um uns aufs Grosshorn und Chlin Hüreli hinaufzuwuchten. Theoretisch nur läppische 200 Gramm Schokolade.
Am Lifestyle der frühen Averser Bewohnerinnen und Bewohner – und an Hemingway sowie seines Compagnons John Dos Passos, die mit den befellten Holzskiern im April-Mai 1925 von Schruns bis nach Galtür zogen – haben wir nur eine kleine Anleihe gemacht.
Danke für die Tour, lieber Markus! Danke auch den Tourenkollegen René Signer, Gallus Steiner und Edi Wagner. Bericht: Michael Walther, 4.3.16
https://de.wikipedia.org/wiki/Avers_GR
http://www.gemeindeavers.ch
http://www.legr.ch/fileadmin/mo/legr/documents/Schulblatt/2013/BS4_AUG13.pdf
http://www.servustv.com/at/Medien/Bergwelten12
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